Sieben Leben für mein Land – Wie Otoya Yamaguchi mit einem Schwertstreich Japans Schicksal entschied

Otoya Yamaguchi

Am 12. Oktober 1960 erstach der 17-jährige Otoya Yamaguchi mit dem Wakizashi, dem Kurzschwert seines Vaters, den Sozialistenführer Inejirō Asanuma in der Hibiya Public Hall in Tokio.
Ein Attentat, dem in offiziellen Darstellungen bis heute kaum Bedeutung beigemessen wird. Man behauptet, Yamaguchi sei bloß ein Anhänger einer rechtsextremen Vereinigung gewesen, und die Tat habe auf die Politik Japans keinen nennenswerten Einfluss gehabt.

Doch nichts könnte weiter von der Wahrheit entfernt sein.
Otoya Yamaguchi rettete möglicherweise nicht nur Japan vor dem Sozialismus – er veränderte vielleicht den Lauf der Welt.

Dies ist seine Geschichte.

 

Geboren 1943 in Tokio, Sohn des Justizbeamten Shinpei Yamaguchi.

Otoya wuchs in den engen Gassen der Stadtviertels Kojimachi oder Nagatachō auf – alte Viertel Tokios, in dem die japanische Tradition noch atmete, doch der Beton des modernen Japan die Geschichte bereits überschattete und Zukunft versprach.

Tokio war vormals eine Stadt aus unzähligen Häusern aus Papier und Holz, gewachsen über die Jahrhunderte.
Doch in der Nacht des 10. März 1945 hüllten Brandbomben die Stadt in Flammen und verwandelten sie in einer einzigen Nacht in Asche. Mehr als hunderttausend Leben wurden ausgelöscht, Millionen wurden obdachlos.

Otoya Yamaguchi verbrachte seine Kindheit im von den Alliierten besetzen Nachkriegs-Tokio.

Sein Vater Shinpei Yamaguchi war Beamter im Justizministerium, das damals im Regierungsviertel Kasumigaseki (霞が関) im Stadtbezirk Chiyoda, Tokio, angesiedelt war.
Die Familie Yamaguchi lebte also in einem der benachbarten Viertel Kojimachi (麹町) oder Nagatachō (永田町) auf – Gegenden, die traditionell von Regierungs- und Beamtenwohnungen geprägt waren, unweit der Hibiya Public Hall.

Viele der alten Beamtenwohnungen dieser Viertel überstanden die Feuernacht, und so verbrachte Otoya seine Jugend zwischen Tradition und Moderne.

Mit dem Ende der Kaiserregierung Hirohitos schlug die Demokratie erste Wurzeln im Tumult des Wiederaufbaus.

Otoya Yamaguchi

Politisches Umfeld der Nachkriegszeit

Nach der Kapitulation Japans 1945 begann ein tiefgreifender politischer Wandel.
Die amerikanische Besatzung unter General Douglas MacArthur löste die alte Militärverwaltung auf, führte eine neue Verfassung ein und etablierte ein parlamentarisches System nach westlichem Vorbild.
Während die Städte noch in Trümmern lagen, entstanden Parteien, Gewerkschaften und politische Bewegungen in großer Zahl – von monarchistisch-nationalen bis zu sozialistisch-kommunistischen Strömungen.

In dieser Umbruchzeit wurde die japanische Gesellschaft politisch laut.
Auf den Straßen demonstrierten Gewerkschaften, in den Universitäten organisierten sich Studenten, und im Parlament tobten Redeschlachten, die oft in Handgemenge ausarteten.
Die junge Demokratie war lebendig, aber instabil – ihre Lager tief gespalten.

1955 entstand das sogenannte „1955er-System“, das für Jahrzehnte die politische Landschaft bestimmen sollte:

  • Die Liberaldemokratische Partei (LDP), die noch heute Japan regiert, entstand aus der Vereinigung zweier konservativer Gruppierungen. Sie war pro-amerikanisch, wirtschaftsorientiert und setzte auf Stabilität.

  • Die Sozialistische Partei Japans (SPJ) wurde zur stärksten Opposition. Sie vereinte Gewerkschaften, Intellektuelle und Studenten, die einen neutralen oder sino-freundlichen Kurs forderten.

  • Kleinere Parteien, darunter die Kommunistische Partei Japans (JCP), blieben einflussarm, sorgten aber durch ihre Agitation für ständige Spannungen.

Das Klima war aufgeheizt. Zwischen 1958 und 1960 kam es zu einer Welle massiver Straßenproteste, insbesondere gegen den neuen Sicherheitsvertrag (ANPO) mit den Vereinigten Staaten.
Diese Bewegung vereinte Linke, Studenten und Pazifisten, die Japans Abhängigkeit von den USA beenden wollten.

Inmitten dieser politischen Unruhe wuchs Otoya Yamaguchi heran.
Er beobachtete, wie Politiker, die noch kurz zuvor dem Kaiser die Treue geschworen hatten, nun westliche Werte predigten und die amerikanische Ordnung übernahmen.
Zwischen 1959 und 1960 wurde er mehrfach verhaftet – nicht wegen Verbrechen, sondern im Umfeld politischer Kundgebungen und Zusammenstöße, die in dieser Zeit auf allen Seiten üblich waren.

Denn Gewalt war im politischen Tokio jener Jahre kein Randphänomen. Fünfzehn Jahre nach Kriegsende wurde um die politische Richtung Japans gerungen. Sollte man sich dem Westen oder dem Osten annähern, dem demokratischen Kapitalismus oder der sozialistischen, ja gar kommunistischen Planwirtschaft? Mitten darin die kaisertreuen Traditionalisten, die nicht vergessen hatten, dass das moderne Kaiserreich aus einem bettelarmen Land Japan in die Moderne geführt und das Leben für viele, auch für die einfachsten Arbeiter, maßgeblich verbessert hatte. Die Kaiserzeit galt als goldene Zeit Japans.

Diese Atmosphäre prägte Otoya – und sie sollte bald den Weg zu jener Tat ebnen, die ihn unsterblich machte.

Otoyas politisches Umfeld

In der aufgeladenen Atmosphäre der späten 1950er-Jahre suchte Otoya Yamaguchi nach Orientierung.
Er fand sie zunächst in den Reihen der Greater Japan Patriotic Party (Dai Nippon Aikokutō), einer kleinen, aber lautstarken nationalen Bewegung, die von dem charismatischen Publizisten Akao Bin geführt wurde.

Akao verstand seine Partei als Bollwerk gegen den Kommunismus.
Er war kein Militarist, sondern ein Redner, der glaubte, Japan könne seine Würde nur bewahren, wenn es sich fest an die westliche Allianz binde, die Monarchie ehre und den Marxismus entschieden bekämpfe.
Seine Auftritte vor Regierungsgebäuden und Universitäten wurden zu Sammelpunkten für jene, die im rasch amerikanisierten Nachkriegsjapan ein moralisches Vakuum sahen.

Auch der siebzehnjährige Otoya schloss sich dieser Bewegung an.
Er trug die Uniform der Parteijugend, verteilte Flugblätter und nahm an Demonstrationen teil.
Doch schon bald begann er, die Worte seines Anführers als zu schwach zu empfinden.
Akao, so glaubte Otoya, redete zu viel und handelte zu wenig.

Die Dai Nippon Aikokutō wird heutzutage in westlichen Quellen häufig als rechtsradikale oder ultranationalistische Bewegung bezeichnet.
Aus japanischer Sicht war sie jedoch alles andere als das.
Sie war eine monarchisch-patriotische Bewegung, die Respekt vor dem Kaiser, die Ablehnung des Kommunismus und die nationale Selbstbehauptung unter amerikanischem Schutz forderte.

Für viele junge Mitglieder war die Partei ein Ventil: ein Ort, an dem man diskutieren und handeln konnte.
Doch Otoya sah mehr als andere.
Der rasante Aufstieg des eng kommunistisch vernetzten und begabten Redners Inejirō Asanuma bedrohte seine Heimat – und Otoya musste handeln.

Inejirō Asanuma

Der Gegner: Inejirō Asanuma

Inejirō Asanuma war das Gesicht der japanischen Linken.
Geboren 1898 in Chiba, begann er seine politische Laufbahn in den 1920er-Jahren als Mitglied der Socialist Masses Party, die während des Krieges zunächst sogar kaiserlich-loyal eingestellt war.
Nach 1945 wandelte sich Asanuma – wie viele Politiker jener Zeit – vom Imperialisten zum Sozialisten.
Er stieg rasch in der Japanischen Sozialistischen Partei (Nihon Shakai-tō) auf und wurde zu ihrem Vorsitzenden.

Asanuma war ein charismatischer Redner.
Seine Auftritte waren laut, leidenschaftlich und aufrüttelnd.
Er sprach vom „Brudervolk China“, vom gemeinsamen Kampf gegen den Imperialismus und von der Vision eines sozialistischen Japans, das sich vom amerikanischen Einfluss befreien sollte.

1959 reiste er auf Einladung Pekings nach China, wo er persönlich von Mao Zedong empfangen wurde.
Er sah ein Land, das vom Bürgerkrieg und den Folgen der kommunistischen Revolution gezeichnet war, erlebte jedoch die Inszenierung der neuen Volksrepublik – voller Propaganda und Versprechen.
Trotz der Berichte über Hunger, politische Verfolgung und Massensterben unter Maos Herrschaft kehrte Asanuma begeistert zurück.
Er erklärte öffentlich, dass Japan und China einen gemeinsamen Weg gehen sollten, und propagierte die Idee, Japan müsse sich vom Westen lösen und sich Maos China anschließen.

Kurz darauf rief er in einer Rede aus, die USA seien der gemeinsame Feind Japans und Chinas – ein Satz, der im konservativen Lager wie eine Kriegserklärung wirkte.
Auch wenn Asanumas Partei noch weit entfernt von einer möglichen Mehrheit war, bekam sie aufgrund seiner Redegewandtheit rasanten Zulauf.
Denn der Sozialismus neigt immer dazu, sich zu radikalisieren.

Otoya Yamaguchi sah, wie der Kommunismus am Horizont als größte Bedrohung für die japanische Seele heraufzog.
Er wusste, dass unter Chinas Gleichmacherei die Traditionen und die Identität seiner Heimat ausgelöscht werden würden – und Asanuma verkörperte alles, was sein Land ins Verderben führen würde.In den Monaten vor dem Attentat schien Asanuma dem Ziel, Japans stärkster Politiker zu werden, gefährlich nahe.

Und so reifte in Otoya die Entscheidung, zu tun, was notwendig war.
otoya yamaguchi

Das Attentat in der Hibiya Hall

Am 12. Oktober 1960 fand in der Hibiya Public Hall in Tokio eine große politische Veranstaltung statt.
Es war eine Fernsehdebatte zwischen mehreren Parteien, organisiert vom öffentlich-rechtlichen Sender NHK.
Auf der Bühne standen Vertreter der wichtigsten politischen Lager – unter ihnen der charismatische Vorsitzende der Sozialistischen Partei, Inejirō Asanuma.

Das Publikum bestand aus Studenten, Funktionären und Journalisten.
Die Stimmung war gespannt, denn das Jahr 1960 war geprägt von wochenlangen Massendemonstrationen gegen den Sicherheitsvertrag mit den USA (ANPO).
Die sozialistische Bewegung war laut, selbstbewusst und bereit, das politische Klima des Landes zu kippen.

Als Asanuma mit erhobener Stimme sprach, betrat plötzlich ein schmächtiger junger Mann in schwarzer Schuluniform die Bühne.
In seiner Hand hielt er das Wakizashi, das Kurzschwert seines Vaters.
Es war Otoya Yamaguchi, siebzehn Jahre alt.

Bevor die Sicherheitsleute reagieren konnten, stürmte Otoya nach vorn.
Mit einem präzisen Stich traf er Asanuma in die Brust.
Der sozialistische Führer sackte sofort zusammen.
Die Szene, von den Kameras live übertragen, zeigte für einen Augenblick den Ausdruck eines jungen Mannes, der – ruhig, gefasst und ohne Hass im Gesicht – sein Schwert wieder an sich zog.

Otoya ließ sich widerstandslos festnehmen.
Er sagte kein Wort, zeigte keine Reue und wirkte, als habe er getan, was er für unausweichlich hielt.
Auf dem Polizeirevier erklärte er später nur, er habe „das Böse an der Wurzel ausreißen müssen, bevor es wachsen könne“.
Dieser Satz prägte sich tief in das nationale Gedächtnis ein und führte später zu dem patriotischen Ausspruch der weltweit bekannt wurde:
„Never let evil take root“ – Lasse niemals zu, dass das Böse Wurzeln fasst.

Das Bild des Angriffs ging um die Welt.
In Japan löste es Schock, Fassungslosigkeit und zugleich heimliche Bewunderung aus.
Viele sahen in Otoya einen Wahnsinnigen – andere einen Patrioten, der das getan hatte, was niemand sonst zu tun wagte.
Obwohl das Land zu dieser Zeit lautstarke Politik und sogar Straßenschlachten gewohnt war, schockierte eine politische Hinrichtung die Nation zutiefst.

Der Tod in der Zelle und das Vermächtnis

Nach seiner Festnahme wurde Otoya Yamaguchi in das Jugendgefängnis von Tokio überstellt.
Er verweigerte die meisten Befragungen, blieb ruhig und höflich gegenüber den Beamten.
Mehrfach soll er erklärt haben, dass er keine Feinde im persönlichen Sinn habe – nur den Wunsch, das Böse an seiner Wurzel zu tilgen.

An der Wand hinterließ er mit Zahnpasta geschriebene Worte:

„Sieben Leben für mein Land. Lang lebe der Kaiser.“

Er knüpfte aus einem Bettlaken eine Schlinge und ging in das nächste.

Drei Wochen nach dem Attentat, am 2. November 1960, fand man Otoya tot in seiner Zelle.

In den folgenden Jahren wurde sein Name zum Symbol einer verlorenen Generation: jung, idealistisch, enttäuscht von Politikern, die zwischen den Fronten von Ost und West lavierten.
Seine Tat spaltete das Land, aber sie hinterließ einen bleibenden Eindruck.

Der Sozialismus in Japan erholte sich nie wieder von diesem Schlag.
Die Sozialistische Partei verlor in den Folgejahren stetig an Einfluss, die Liberaldemokratische Partei dagegen festigte ihre Macht.
Japan blieb pro-westlich, kapitalistisch – und wurde zu einem der wirtschaftlich stärksten Länder der Welt.

So endete das Leben eines Otoyas, der das Schwert seines Vaters für die Zukunft seines Landes geführt hatte.

Rückblick und historische Bedeutung

Mehr als sechzig Jahre sind seit jenem Tag vergangen, an dem ein siebzehnjähriger Schüler mit einem Kurzschwert Geschichte in den Sand der Zeit schrieb.

Rückblickend kann man sagen, dass eine Annäherung Japans an China eine Katastrophe für die gesamte westliche Welt gewesen wäre.
Zur Zeit der Tat befanden sich die USA im Krieg – sowohl in Vietnam als auch auf der koreanischen Halbinsel.
Russland und China, lose koaliert, lieferten Waffen, und die Drohung eines Atomkrieges zeichnete sich bereits am Horizont ab.

Japan, als westlicher Verbündeter im Pazifik vor der Küste Chinas, war ein entscheidender geopolitischer Anker.
Es hielt das Gleichgewicht zwischen demokratischem Kapitalismus und kommunistischer Expansion – ein Gleichgewicht, das über das Schicksal des Kalten Krieges mitentschied.
Auch später, während seines wirtschaftlichen Aufstiegs und der industriellen Modernisierung, trug Japan maßgeblich zur Stärkung des freien Handels und des Wohlstands der westlichen Welt bei.

Ein sozialistisches oder gar kommunistisches Japan in den 1960er-Jahren hätte ein politisches Ungleichgewicht geschaffen, das die Welt in eine Katastrophe, vielleicht sogar in einen Dritten Weltkrieg, hätte führen können.

Wir können nicht wissen, ob all dies – oder auch gar nichts davon – geschehen wäre, hätte Inejirō Asanuma weitergelebt.
Wir wissen nur, dass ein siebzehnjähriger Schüler diese Zukunft Japans voraussah – und glaubte, sie verhindern zu müssen.

Otoya Yamaguchi hinterließ kein Manifest, kein Programm und keine Partei.
Nur einen Satz, den Japan nie vergessen hat:

„Sieben Leben für mein Land.“

idealisiert otoya

 

 

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